Malte Sänger
daemon photobook
Dazu kommen noch die wiederhergestellten Sicherungskopien von Chatverläufen. In diesem Schritt ist Sänger nicht nur der Sammler von Daten, da er sich alte Mobiltelefone kauft und die darauf vorhandenen Informationen wieder zugänglich macht. Zugleich ist er selbst aktiver Bestandteil der Datenprozession. Er erfasst, umschreibt und skizziert in seiner eigenen Sprache die Nachrichtenverläufe dreier Personen. Es ist eine Form der Informationsverarbeitung, die aber keinen systematischen Zwecken folgt. Sängers Worte bilden ein Gespinst von Nachrichten und Informationen; sie führen uns heran an Ausschnitte dreier, uns unbekannter Personen, Patricia, Christian und Yvonne. Sie begleiten uns (oder begleiten wir sie?) während sich die gesamte Geschichte von Malte Sängers daemon entfaltet.
Der platonische Exkurs führte uns ungefähr 2500 Jahre zurück, doch überrascht der Weg über den begrifflichen und philosophischen Ursprung im Griechischen nur auf den ersten Blick. Tatsächlich liefert uns gerade dieser Dämon präzise Erklärungen, denn Diotima lässt in ihren Ausführungen über Eros weiterverlauten: „Ein Gott hat mit einem Menschen keinen direkten Kontakt, sondern durch Vermittlung dieses Dämonischen vollzieht sich jeder Umgang und jedes Gespräch der Götter mit den Menschen“ (203a). So verhält es sich auch mit Sängers daemon; zwischen Mensch und Technologie bedarf es steter Übersetzungsleistungen.
Heute ist der Begriff des Dämons auch aus der Informatik bekannt, es ist ein Computerprogramm, das im Hintergrund abläuft und mit dem ausschließlich indirekt interagiert wird. Ebenso steht es in Verbindung mit Algorithmen, die große Datenmengen anhand von Mustern und Zusammenhängen erfassen und schließlich auswerten. Sänger thematisiert nicht nur diverse dieser Technologien und die dazugehörige Infrastruktur der Erfassung, Speicherung und Verarbeitung von Daten, sondern zeigt uns dabei indirekt, über welchen Einfluss diese verfügen.
Bei Sokrates und Platon stehen noch unsterbliche Götter über den Menschen und beeinflussen deren Schicksale. Mithilfe empirischer Logiken hat der Mensch sich dieser Götter entledigt; versucht, sich alle Sphären zu erschließen und vorhersagbar zu machen. An die Stelle des platonischen Verständnisses von Göttlichkeit ist eine Form der Allwissenheit getreten. Dadurch ist eine veränderte Form von Macht entstanden, die erneut menschliches Verhalten vorhersagt oder sogar bestimmt. Automatisierte Welten, die sich der Kontrolle des Menschen zunehmend entziehen, ersetzen den einstigen Glauben an göttliche Kräfte.
Diesen Versuch durchleuchtet Sänger; kurzzeitig wird er selbst zu Diotima. Ihm gelingt es, sich in undurchdringliche und private Datenwelten einzuarbeiten, diese hervorzuholen und sichtbar zu machen. Er beobachtet das Wirken der Dämonen, die vielfältigen Übersetzungsprozesse und hinterfragt die Unklarheiten im nachhaltigen Umgang mit den von ihnen gesammelten Informationen. Das, was er sich dabei erschließt, teilt er uns in daemon mit.
Zit. aus: Platon: Das Gastmahl. Übers. und Hrsg.: Paulsen, Thomas. Stuttgart: Reclam, 2008
Die Rückkehr der Götter
Diotimas Dämon oder eine Einführung in die Fernerkundung
von Hannah Katalin Grimmer
„Ein großer Dämon, Sokrates, denn alles Dämonische steht zwischen Gott und den Sterblichen.“ (202d-e), erläutert Diotima. Sie selbst, eine weise, griechische Priesterin aus Arkadien, liefert Sokrates, dem Philosophen, eine Erklärung zum Wesen des Eros‘. Daraufhin fragt Sokrates nach den Fähigkeiten und Potenzialen des Eros.Er vermittele zwischen Göttern und Menschen, führt Diotima aus. Folglich bilde er einen Knotenpunkt, „sodass das All mit sich selbst verbunden ist.“ (202e). Die Götter sind wissend, die Menschen unwissend; der Dämon füllt den Raum in der Mitte, Eros ist der wissende Unwissende.
Wie auch Malte Sänger in seiner künstlerischen Arbeit veranschaulicht, charakterisiert ihn weder Gutes noch Böses, weder Schönheit noch Hässlichkeit. Er steht in seinem ganzen Wesen zwischen allem. Einen Dämonen so zu verstehen heißt, ihm die Eigenschaften eines Boten zu verleihen. Er wird zum Mittler und zugleich zum Dolmetscher.Begeben wir uns also auf die Spuren der Diotima. Dieser platonische Diskurs führt uns – und sei es auf Umwegen – zur Komplexität des Werks daemon von Malte Sänger. Der Künstler erschafft einen scheinbar künstlichen daemon, bestehend aus vier sich kreuzenden und teilweise überlagernden Komponenten.
Wir treten an die Arbeit von außen heran, begeben uns von sehr Distanziertem bis zu Intimen. Schritt eins: Sänger baut sich eine Antenne, um Daten verschiedener Telekommunikations- und Erdbeobachtungssatelliten zu empfangen. Künstliche Satelliten sind Raumflugkörper, die unter anderem um die Erde kreisen und Informationen für wissenschaftliche, wirtschaftliche, industrielle oder militärische Zwecke zusammentragen. Sind diese geostationär, verhält sich ihre Umlaufbahn stets in dergleichen Position zur sich drehenden Erde. Sänger empfängt mit seiner selbstgebauten Antenne Rohdaten dieser Satelliten und zeichnet deren Funksignal auf. Aus den daraus entstehenden Tonspuren werden mithilfe eines Konvertierungsprogrammes Bildaufnahmen. Die schließlich als klare Einheit der Erdoberfläche erscheinenden Fotografien sind trügerisch, sind sie doch in Wirklichkeit aus einem Kontinuum extrahierte Tonsignale. Dennoch zeigen die Resultate auf eindrucksvolle Weise diesen Planeten. Selten ergeben Töne derart malerische Strukturen.
Vom All bewegen wir uns in Richtung der Erde. Auf einer ästhetischen Ebene wirkt dieser zweite Schritt nüchtern und klar. Sei es ein Archiv oder eine Empfangsstation für Satellitenbildern, Sänger zeigt uns analoge Mittelformataufnahmen diverser Orte der Datenverarbeitung. Satelliten übertragen die von Sensoren aufgezeichneten Daten an Bodenstationen, in denen Rohdaten in höherwertige Informationsprodukte umgewandelt werden. Das, was dort auf vielseitige Weise verarbeitet wird, ist zunächst für das menschliche Auge nicht zu sehen.In einem dritten Schritt rückt Sänger physisch näher an den Menschen heran. Die sogenannte Face-ID, eine Methode der Gesichtserkennung von Mobilgeräten, legt ein Raster von Merkmalen des Gesichtes an, um auf diese Weise seine oder ihre Besitzer*in zu identifizieren. Die Gesichtserkennungssoftware basiert auf einem lernfähigen Algorithmus, der dem Telefon ermöglicht, verschiedene Ansichten zu speichern und sich so menschliche Fähigkeiten anzutrainieren. Das Mobilgerät sendet Infrarotpunkte zur biometrischen Identifikation aus, die schließlich den Bildschirm entsperren. Der Künstler fotografiert mit einer Infrarotkamera die Gesichter in eben diesem Moment und macht so das von Mobiltelefonen ausgestrahlte, für uns sonst unsichtbare Infrarotgitter erkennbar.
daemon
2020
photobook 34cm x 25cm
72 pages (fold outs)
graphic design:
Veerle Vervliet
text:
Hannah Katalin Grimmer
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